Für Hans
Am 8. September verstarb 77jährig mein Bruder Hans (Johannes Zulehner). Er verbrachte sein Leben mit einer starken Behinderung. Hier die Predigt bei der Bestattung am 24.9.2011 in St. Thomas.
Liebe trauernde Gemeinde!
Er hat ein verborgenes Leben gelebt. Sein Lebensraum war eng, sein Zugang zur weiten Welt eher verschlossen. Wenig von dem, was ihn bewegte, konnte er in Worte kleiden. Das war die Welt, in der Hans lebte.
Und doch gab es Schätze in seinem Leben, in dem er aus unserer Sicht arg behindert war. Ich möchte es an zwei Symbolen zeigen, die aus der kleinen, aber vielleicht reicheren Welt stammen, als wir ahnen.
DER TEPPICH
Hans konnte mit einer Eselsgeduld knüpfen: Hosenträger in Fein-Goblin, Kelim- Teppiche. Die Mutter und später Maria-Luise besorgten die Vorlagen und die verschiedenen farbigen Wollen. Hans schnitt die Fäden in der erforderlichen Länge. Dann zog er Faden um Faden in die Vorlage ein. Kaum ein Tag, da er nicht konzentriert über den unaufhaltsam wachsenden Teppich gebeugt arbeitete. Er ließ sich dabei auch nicht gern stören.
Manchmal hat sich unbemerkt ein Knüpffehler eingeschlichen, den Hans nicht gleich bemerkte. Viele Reihen weiter hat er ihn dann entdeckt. Dann war er nicht mehr aufzuhalten. Er trennte dann alles, was nach dem Fehler kam, entschlossen auf, mag der Fehler auch noch so klein gewesen sein.
ORDNUNG
Ein Sinnbild für eine starke und zugleich auch nicht einfache Fähigkeit von Hans. Es musste alles seine genaue Ordnung haben. Der Tagesablauf war strengstens geregelt, vom Aufstehen, dem Waschen und Anziehen, der Zahl der Brote beim Frühstück, die Suppe, das Getränk und die Nachspeise bei jeder Mahlzeit, das Schlafengehen. Die Ordnung hat seinem Leben einen starken Rahmen gegeben. Sie hat ihn gehalten. Bis ans Ende seines Lebens.
Wie wichtig ihm die Ordnung war, hat sich gezeigt, als er vor seinem Umzug nach Gaspoltshofen das Gespür für Tag und Nacht vorüber gehend verloren hat. Da geriet sein eigenes Leben, und mit ihm das der Menschen in seiner Umgebung aus den Fugen.
GEWEBE
Seine Begabung, Teppiche zu knüpfen, zeigt aber auch eine bewundernswerte Eigenschaft von Hans. Obwohl er stark behindert war, führte er sein eigenes Leben. Er war im strengen Sinn dieses Wortes sehr eigensinnig. Oft tat er nicht, war andere von ihm erwarteten und was aus deren Sicht gewiss sinnvoll war. Aber sein Eigensinn stellte auch sicher, dass es sein Leben war. Und wie er Teppiche zu schönen Kunstwerken erschuf, hat er so aus seinen Lebensmöglichkeiten SEIN Leben gewoben. Und auch das ist jetzt, wo sein Lebensteppich fertig gewoben ist, in einem ganz eigenen Sinn ein Kunstwerk geworden, mit 77 Jahren, an einigen Orten, und mit einem großen Charme, den er zweifelsfrei besaß. Er konnte mit seiner anhänglichen Art das Herz vieler Menschen gewinnen. Die Sprache der Zuneigung war für ihn bildhaft und einfach. Er strahlte, wenn man ihn fragte: "Bist du mein lieber Spatz?"
ROT
Ein zweites Symbol, das viel vom Reichtum des von außen her eher ärmlichen Lebens von Hans zeugt, ist seine kompromisslose Liebe zur Farbe Rot. Was immer er sich wünschte, sollte rot sein: das Armband der Uhr, die Trainingshose, die Möbel in seinem Zimmer, die Bettwäsche.
Rot ist für das russische Volk die Farbe des Schönen: krasnij - der "rote Platz". Hans liebte diese Farbe. Sie machte sein graues Leben schön.
Rot ist die Farbe des Feuers, des göttlichen Geistes, der Liebe. Letztlich trägt jeder von uns diese Sehnsucht nach der schönen Liebe in sich - und wir Theologen fragen behutsam, ob diese unstillbare Sehnsucht nicht Gottes charmante Art ist, sich bei uns Gottvergessenen in Erinnerung zu halten?
Ob jetzt Hans in einer Welt ist, voll von Rot, von Schönem, von Liebe? Ich stelle mir seinen Himmel jedenfalls so vor.
ENTFESSELT
Das bringt mich zu einem dritten Gedanken, der mich als Theologen oft beschäftigt hat, und der mir an Hans so anschaulich geworden ist.
Gott erschafft jeden Menschen, so sagen wir vor allem Hinschauen auf die Realität. Das macht Gott aus der Tiefe seines Wesens, so fügen wir hinzu und nennen es Liebe. Dann aber sehe ich Hans und seine Behinderungen. Und höre mit betroffenem Herzen die vielen anderen ratlos fragen, denen ein Kind mit Behinderungen geboren wird. Warum nur? Ich war vor wenigen Tagen im Holocaustmuseum in Washington. Dort sah ich Bilder von Hartheim und Kindern mit geistigen Behinderungen, ein achtjähriges Mädchen, ein zehnjähriger Bub, nackt, mit dem Kommentar: kurz vor ihrer Tötung. Lebensunwertes Leben nannte man es. Hans war damals ein potentieller Kandidat für Hartheim. Hat also solches Leben keinen Wert? Birgt es keinen Sinn in sich?
Ich hab für mich eine Idee entworfen. So wie ich Hans kennen- und lieben gelernt habe, dachte ich immer: In ihm steckt weit mehr als sich entfalten konnte. Aber sein Potential, seine reichen Begabungen: sie sind gleichsam gefesselt, durch organische Schäden, die er schon ins Leben mitbrachte oder erst später durch eine medizinisch folgenschwere Behandlung erlitt.
Dann aber stelle ich mir vor, dass im Tod, wo er all diese tragischen Behinderungen abwerfen konnte, all seine Fähigkeiten entfesselt worden sind. Hans ist, was Gott in seiner Liebe aus ihm seit eh und je machen wollte - ein Kunstwerk seiner Schöpfung, der schönste aller Teppiche, von Hans angefangen und von Gott zu Ende gewoben, den es im Himmel gibt - und das alles mit einem betörenden Rot des Schönen und der Liebe.
Wie sehr ich Hans diese Entfesselung wünsche und vergönne. Und ich gestehe, schon jetzt bin ich neugierig, wie er - entfesselt von all seinen Behinderungen - aussieht und liebenswürdigen Charme verbreitet.
AMEN.
FÜRBITTEN
Du unser guter Gott! Der Du voll von Liebe und Erbarmen bist. Wir rufen zu Dir:
* Du hast Hans aus Liebe erschaffen. Sein ganzes Leben bist Du mit ihm gegangen. Nimm ihn jetzt für immer in Deine Arme!
WIR BITTEN DICH ERHÖRE UNS!
* Nur manches von dem, was Du in ihn hineingelegt hast, konnte sich in seinem irdischen Leben entfalten. Lass ihn jetzt, von seinen Behinderungen befreit, zur vollen Schönheit erblühen!
* Hans war mit seinen Begrenzungen auf viele gute Menschen angewiesen. Manche wie sein Vater und seine Mutter, aber auch zwei seiner Brüder Jörg und Josef sind vor ihm gestorben. Vergilt ihnen, was sie Hans Gutes getan haben!
* Hans hat viel von seiner Familie und vielen anderen guten Menschen erhalten. Er hat aber auch viel geschenkt: Herzlichkeit, Geduld, Anhänglichkeit. Vor allem aber war er ein Lehrmeister für Solidarität. Ohne Menschen mit Behinderung wäre unsere Gesellschaft kühler und ärmer. Vergilt Du ihm und allen Menschen mit Behinderung, was sie unbemerkt für uns tun!
* Für alle Menschen, die mit einer Behinderung leben: Lass sie Menschen finden, die mit ihnen gehen und die guten wie auch die schweren Zeiten mit ihnen tragen.
* Für alle, die sich in Familien und Pflegeheimen um Menschen mit Behinderung kümmern: schenke ihnen Kraft und ein mitfühlendes Herz!
Du Guter Gott, Du bist mit uns und weißt, was uns gut tut. Dafür danken wir Dir. Amen.